Vom Wert des Zuhörens
Für eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin
4. Freiburger Symposium zu den Grundfragen des Menschseins in der Medizin.
10. Juni 2016, 12:15-19:00 Uhr, Audimax (Kollegiengebäude II)
11. Juni 2016, 09:00-18:00 Uhr, Aula der Universität (Kollegiengebäude I)
Dr. phil. Alice Holzhey-Kunz
Daseinsanalytisch-psychotherapeutische Praxis, Zürich
Abstract: »Psychotherapeutisches Zuhören mit einem philosophisch sensibilisierten Ohr«
Meine Überlegungen zum psychotherapeutischen Zuhören verbinden Erkenntnisse Sigmund Freuds mit Erkenntnissen der Existenzphilosophie.
Sigmund Freud hat erkannt, dass ein Zuhören in „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ gefordert ist, wenn man einen verstehenden statt nur diagnostizierenden Zugang zu den rätselhaften Leidenssymptomen des Patienten finden will. Doch erst sein Schüler Theodor Reik hat klargestellt, dass diese ungewohnte Art des Zuhörens den Sinn hat, die „Empfindsamkeit für die fast nicht hörbare Sprache des Unbewussten zu schärfen“ und „seine [des Therapeuten] Bereitschaft zu erhöhen, sie zu empfangen.“ Daraus ergibt sich die wichtige Einsicht, dass es nicht darum geht, beim therapeutischen Zuhören nur einer besonderen Regel zu folgen, sondern dass alles auf jene Sensibilisierung des Ohres für die „unbewusste“ Dimension im Reden des Patienten ankommt, welche beim ‚normalen‘ Zuhören ungehört bleibt.
Damit wandelt sich die Frage, wie der Therapeut zuhören soll, zur Frage, wofür sein Ohr sensibilisiert werden soll. Wenn ich für eine philosophische Sensibilisierung plädiere, gehe ich über Freuds Psychoanalyse hinaus und lasse mich von der existenzphilosophischen Erkenntnis leiten, dass ein basales Philosophieren zum Menschen als Menschen gehört und ihn zugleich ängstigt. Das führt mich zu einem philosophischen Verständnis seelischen Leidens als einem „Leiden am eigenen Sein“, welches das psychoanalytische Verständnis zu ergänzen und zu vertiefen vermag. Der Therapeut soll also (auch) mit einem philosophisch sensibilisierten Ohr zuhören, weil die ganz konkreten Erzählungen des Patienten nicht nur mit verdrängten persönlichen Kindheitserfahrungen durchsetzt sind, sondern auch mit existenzialen Erfahrungen des eigenen Mensch-seins, denen der Patient aufgrund einer besonderen Hellhörigkeit unfreiwillig ausgesetzt ist. Weil diese „Seinserfahrungen“ vor allem emotionaler Natur sind, sollte das Ohr des Therapeuten auch sensibel werden für die sich in den konkreten Affekten des Patienten verbergenden existenzialen Grundemotionen der Angst, Schuld und Scham.
Der Schluss des Vortrags wendet sich den Schwierigkeiten und den Chancen dieses Zuhörens zu: Einerseits stellt das Zuhören mit einem philosophisch sensibilisierten Ohr hohe Anforderungen an den Therapeuten, weil er nun im Reden des Patienten das mithört, was auch ihn als Menschen ängstigt; andererseits stellt sich dank diesem Zuhören eine Sympathie mit dem Patienten ein, welche nicht an dessen persönliche Eigenheiten gebunden ist und darum eine dem therapeutischen Prozess förderliche Beziehung zu begründen vermag.